Zahl
und Zeit: Becker zwischen Nietzsche und Heidegger
Antonello Giugliano
Die mantische Phänomenologie verstand es O. Becker als eine unumgehbare Integration der formalen, bzw. transzendental-konstitutiven Phänomenologie Husserls und der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers. "Der Übergang von der 'formalen' Phänomenologie (Husserl) zur 'hermeneutischen' Phänomenologie (Heidegger) besteht also in der Zuspitzung des 'reinen Bewußtseins' zum 'historischen Dasein'; dies bedeutet eine Verengung, aber auch eine Konkretisierung" schrieb 1927 Becker in seinem Hauptwerk Mathematische Existenz [1][1].
Dies bedeutete eine Verengung darum, weil das Formale, auch und gerade als Form einer Konkretion, im Zugang zum Phänomen selbst, also wegen der Komplettheit des Zuganges zur Phänomenalität in ihrer Ganzheit, durchaus nicht außer Acht gelassen werden kann. Aber dieses Formale muß das eigentliche Formale der geschichtlichen Existenz sein. Deshalb die Aufgabe jener versuchten phänomenologischen Integration ist es, das Formale des daseinsmäßigen Geschichtlichen zu thematisieren und darzustellen, und zwar eben vom Standpunkt des geschichtlichen Daseins und dessen konstitutiven Horizontes aus: die Zeit und die modi, die zeitlichen Modalitäten, der Zeitigung ihrer Zeitlichkeit. "Es handelt sich nun darum, das Formale dieser historischen Zeitlichkeit herauszuheben"[2][2].
Der charakteristische Zug der geschichtlichen Zeitlichkeit besteht in ihrer Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, Irrepetibilität, also Zukünftigkeit. Aber das noch mehr Charakteristische dieses Zuges ist die Tatsache, daß die Möglichkeit, das heißt die Zeitigung jener eksistenzialen Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, Irrepetibilität und Irreversibilität der geschichtlichen Zeitlichkeit des Daseins sich immer noch wiederholt, sie kehrt immer wieder.
Diese unendlich wiederkehrende Iteration der Zeitigung der geschichtlichen Zeitlichkeit selbst bedeutet nicht nur, daß die geschichtliche Zeitlichkeit des eksistenzialen "Vorbei"[3][3] immer zukünftig, futurativ, neu und anders ist, sondern auch und vor allem, daß sie zugleich in ihrem tiefsten Kern ein immer gleich und notwendig wiederkehrendes Moment enthält: die ewige Wiederkehr der gleichen Zeitigung selbst; diese aber, als solche, bedeutet zugleich Iteration ihrer selbst als ewige Wiederkehr des Gleichen und zwar als ewige Wiederkehr der gleichen Möglichkeit/Zukünftigkeit des Einmaligen, des Ungleichen (des Nämlichen)[4][4]: "Das Kennzeichnende der Naturzeit gegenüber der historischen Zeit ist das Bestehen der Möglichkeit der Wiederkehr des Gleichen, des Sich-Wiederholens des gleichen Ereignisses. Dagegen kennt die historische Zeit die Wiederkehr nicht; man könnte zugespitzt sagen: (echte) Zukunft schließt (echte) Wiederkunft aus. Indem die Dinge stets auf mich zu-kommen d. h. auf mein Dasein in seiner einmaligen Jeweiligkeit gewissermaßen zugespitzt sind, können sie nicht in der gleichen Weise wiederkommen, denn damit würden sie ihre eindeutige Zugespitztheit verlieren. Damit ist (in der historischen Zeit) genau genommen auch die Kategorie des Gleichen ausgeschlossen, es gibt dort nur Nämliches. (Identisches im strengen Sinn). Die Zeit ist beide Male in ganz verschiedener Weise principium individuationis. Naturzeit ermöglicht das Wiederauftreten des genau Gleichen (homoeidés) 'zu verschiedenen Zeiten'. [...] Dagegen individuiert die historische Zeit durchaus nicht in dieser Weise der 'Vereinzelung' ganz gleicher, nicht mehr spezifizierbarer Gegenstände. Sie individuiert nur so, daß jedes Individuum jeweils auf seinen eigenen Tod verwiesen wird, für den es sich nicht irgendwie vertreten lassen kann"[5][5].
Das gilt aber auch und vor
allem für die Selbstindividuation des Urindividuums, nämlich für die
'Individuität' der Zeit selbst. Darum, so schreibt Becker 1930 in
seiner Abhandlung Zur Logik der Modalitäten, "darf man nicht
aus dem Auge verlieren, welche 'Zeit' gemeint ist. Man muß streng
festhalten, daß es sich um die ursprüngliche Zeitlichkeit,
die 'Zeitigung' der Zeit selbst handelt"[6][6].
Die Zeitigung als solche erscheint also an sich zweideutig: sie erscheint identisch und zugleich verschieden, notwendig und zugleich ermöglichend; deshalb kann sie sich als Natur und/oder als Geschichte zugleich zeitigen; das bedeutet, daß sie als reine, formale, unendliche Zeitigung in sich selbst unrein, material, endlich erscheint. Das, was in diesem Sinn, als unendliche Wiederholung einer einmaligen Endlichkeit, un-endlich ist, ist eigentlich in der mathematischen Sprache überendlich, 'transfinit'.
Eine "transfinite Iteration"[7][7] ('Null', Zahl, Reihung usw.)[8][8]: das kennzeichnet das logische Wesen der Zahl. Dieses Wesen aber ist eigentlich 'a-logisch', weil das Wesen der Zahl als transfinite Iteration, also als immer wiederkehrende intuitionistische 'Konstruktion'[9][9] (d. h.: die kínesis von der 'Null' - nulla figura, cifra, zero, as-sifr, sunya-bindu [Leer-punkt][10][10] - zur Zahl - Figur, Ziffer -, und so immer wieder), der gleichen und zugleich ungleichen/nämlichen Eins in der unformalen, widerspruchsvollen Struktur des Selbsterscheinens der Zeitigung der Zeitlichkeit der Zeit gehört: und zwar in jener unmenschlichen Subjektität, die urek-statisch immer noch und immer wieder in sich als außer sich erscheinend an sich/ihr selbst erscheint (zugleich als Gegenwärtigkeit der Gewesenheit und der Zukünftigkeit, als Gewesenheit der Gegenwärtigkeit und der Zukünftigkeit, als Zukünftigkeit der Gewesenheit und der Gegenwärtigkeit usw.)
"Damit entscheidet die phänomenologische Analyse als hermeneutische, d. h. als auslegende auf das Dasein hin, die Streitfrage der Definition der mathematischen Existenz zugunsten des Intuitionismus. Denn die intuitionistische Forderung, jeder mathematisch existente Gegenstand müsse durch eine in concreto und de facto vollziehbare Konstruktion 'dargestellt' werden können [...] enthält nichts anderes als das Postulat: alle mathematische Gegenstände sollen durch faktisch vollziehbare Synthesen erreicht werden können. Und das besagt, eigentlicher ausgedrückt: Echte ('existente'), mathematische Phänomene 'sind' nur in faktisch vollziehbaren Syntaxen. [...] Dadurch, daß sich aus der Eigenart der mathematischen Phänomene die Notwendigkeit ergibt, den Vollzug in den Mittelpunkt zu stellen, ist das eigene (historische) menschliche Dasein als ausschlaggebend hingestellt. Die Mathematik erhält damit eine 'anthropologische' Fundierung. Nicht ein ordnungsmäßig gegliedertes, 'objektives', im traditionellen Sinn 'an sich' seiendes Universum [...], sondern das faktische Leben des Menschen, das jeweils eigene Leben des Einzelnen (oder wenigstens der jeweiligen 'Generation') ist das ontische Fundament, auch für das Mathematische"[11][11].
Die Zahl, bzw. "das Zählen ist [...] bedingt durch die wesentliche Zeitgebundenheit des Menschen (genauer seine 'historische' Befangenheit), wie ja auch schon Kant die Zahl auf die Zeit zurückgeführt hat, d. h. auf eine nach ihm spezifisch menschliche Anschauungsform"[12][12].
Die transfinite Iteration der Zahl ist also gerade in der Struktur der geschichtlichen Zeit des Daseins verwurzelt: die eigentliche mathematische Existenz ist die Eksistenz des Daseins, das immer schon und immer wieder von seinem einmaligen und zugleich wiederkehrenden Vorbei weiß: seine Zeitlichkeit, die Iteration seiner Zeitlichkeit, ist zugleich nicht die seine, sondern die Iteration der 'Individuität' der Zeitigung selbst, die aber zunächst und zumeist als bloße Verfallenheit des Daseins d. h. als Natur, als Man etc. erscheint, also "der Ursprung der Zeit, die 'vollzugsmäßige' Weise ihres eigentümlichen 'Sich-Zeitigens' "[13][13] wird mit einer Weise der Zeitigung der Zeitlichkeit der Zeit verwechselt. Und die weitere Paradoxie ist es, daß dieses changeling auch und vor allem für den daseinsmäßigen Vollzug gilt, weil "das Grundphänomen 'Ich kann immer wieder', diejenige dynamis, die sich auf das 'pàlin kài pàlin' bezieht"[14][14], bedeutet die ek-statische, 'oblique' Subjektität der Zeitigung selbst.
Man kann also, "in Analogie zu einem bekannten Scherzwort, geradezu sagen: 'existentia a non existendo': die Idee der Existenz in sich selbst enthält schon die Abwehr dagegen, die 'existente' Gegenständlichkeit auf ihr Sein, ihre eigentliche Existenz hin zu befragen. Diese so paradoxe Sachlage wird verständlich, wenn man sie aus dem Gesichtspunkt der hermeneutischen Phänomenologie (Heidegger) betrachtet"[15][15].
Die Wiederholung des Gleichen ermöglicht die Wiederholung des Einmaligen; in der philosophischen Sprache des späteren Becker: die paraeksistenziale Getragenheit des Dawesens ermöglicht die eksistenziale Geworfenheit des Daseins[16][16]. Die Paradoxie nun ist es aber, daß wieder nur die Ek-sistenz, die Offenheit des Daseins das Erscheinen der das Dasein selbst ermöglichenden Immanenz der dawesenden Weltzeit ermöglicht. Diese Paradoxie hängt von der paradoxalen Bedeutung des Da, das zugleich menschlich und un-menschlich 'erscheint', bzw. nicht nur menschlich, allzumenschlich 'ist', sondern auch durchaus un-menschlich, als unendliche Iteration einer reinen Offenheit ohne Menschen 'anwest'[17][17].
Und dieselbe Paradoxie klingt aber anders wenn man auch daran denkt, daß hier Becker nicht nur unter dem Einfluß von Heideggers hermeneutischen Phänomenologie spricht, sondern auch unter dem meist unausgesprochenen Einfluß oder meist neopythagoreisch[18][18] verschleierten Zauber und Bann der uralten Lehre des iranischen, bzw. zarathushtrischen 'Zurwanismus' (aus dem Zeit-Gott Zurwan, der grenzenlos-begrenzt, unendlich-endlich immer wieder ist)[19][19].
So für "die Behauptung des prähistorischen bzw. subhistorischen Ursprungs mathematischer Erkenntnis"[20][20], nämlich für die gesamte Spannung zwischen Historischen und Nicht-historischen, "wesentlich sind vor allem die Zeitvorstellungen, das Verhältnis von zyklischer und einmaliger Zeitlichkeit u. ä. - Nach neueren Forschungen liegen (vielleicht!) altiranischen Vorstellungen [...] zugrunde. [...] Für die altiranischen Zeitvorstellungen vgl. Heinrich Junker, Über iranische Quellen der hellenistischen Aion-Vorstellungen, Vorträge der Bibliothek Warburg 1921/22 (Leipzig und Berlin 1923). Ferner: R. Reitzenstein, Das iranische Erlösungsmysterium (Bonn 1921). - Für das primitive Zeitbewußtsein: Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II. Teil: das mythische Denken (Berlin 1925) S. 132 ff."[21][21], (d. h. der Teil über den mythischen Zeitbegriff; hier im Werk Cassirers liegt der Abschnitt über die unendliche Zeit, Zruvan akarano, die sich in sich selber etzweit, und die Erwähnung des oben genannten Buches von H. Junker; und die Seiten über die Gestaltung der Zeit im mythischen und religiösen Bewußtsein; sowie über die mythische Zahl und das System der 'heiligen Zahlen')[22][22].
Und am Schluß bemerkte Becker: "(Die Darstellung Cassirers enthält wichtiges Material, das aber noch nicht weit genug interpretiert ist. Hier liegt noch eine schwierige ungelöste Aufgabe vor)"[23][23].
Das klingt sicher anders im Vergleich zum kritischen Ergebnis der wenig späteren (1928) Heideggerschen Besprechung[24][24] desselben Bandes des Cassirerschen systematischen Hauptwerkes.
Schon der junge Heidegger aber, in seiner Kritik der Jaspersschen Weltanschauungspsychologie, hatte die archontische Aufgabe der Philosophie als radikalen Phänomenologie darin gesehen, in dem Vollzug einer strengen Analytik und Begriffsbildung des Unendlichen, bzw. der unendlichen Wiederkehr des endlichen Wesens der Zeit, des Vorbei, also in der Effabilität des traditionell selbstverständlichen Wortes "individuum est ineffabile" (bzw. in seiner extensiv und intensiv unübersehbaren bloßen Endlosigkeit). In diesem Sinne schrieb Heidegger gegen den 'oberflächlichen' Unendlichkeitsbegriff von Jaspers: "Und es wäre an der Zeit, statt sich mit diesem 'Ladenhüter' eine tiefsinnige philosophische Geste zu geben, sofern man mit der Rede des Nichtausdrückenkönnens leicht den Anschein erwecken kann, wirklich in unausdrückbare Dimensionen gesehen zu haben, echte Probleme aufzusuchen und zu bearbeiten"[25][25].
Aber der Unendlichkeitsbegriff von Jaspers erschien so 'oberflächlich' nur deshalb, weil er aus Nietzsches Denken stammte, und zwar aus dem Begriff/Unbegriff der ewigen Wiederkehr des Selbsterscheinens des 'Scheins' in sich selbst als immer wieder außer sich erscheinend, also als immer wieder ek-statisch.
Unter "Schein" verstand Nietzsche die reine Zeitigung der Zeitigung selbst: dieser primordialen und zugleich alltäglichen Iteration gegenüber sind alle andere mögliche ontologische und axiologische Strukturen (Sein, Zahl, Wert, auch die historische und/oder unhistorische Zeit) nur mehr etwas bloß derivativ[26][26].
Obwohl Becker in seiner Schrift über die Mathematische Existenz Nietzsche oft erwähnt (vor allem vermittels der von Husserl nicht aufgenommenen aber ausgezeichneten Dissertation über Nietzsche von K. Löwith[27][27], dem "bevorzugten Schüler Heideggers"[28][28]) bleibt seine Nietzsche-Auffassung mehr von Schopenhauer[29][29] als von Nietzsche selbst bestimmt. Die Annährung Beckers an Nietzsche war sehr problematisch, wie gerade sein - gegenüber Löwiths radikaler Thematisierung der ewigen Wiederkehr des Gleichen - 'unphilosophischer' Aufsatz von 1936 über Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkunft[30][30] erweist.
Andererseits aber kommt in den ästhetischen Schriften Beckers (nicht nur in dem Beitrag von 1929 zur Husserl-Festschrift[31][31], sondern auch und vor allem in dem eigentümlichen Beitrag von 1958 zur Rothacker-Festschrift[32][32]) seine innerste philosophische Wahlverwandschaft mit Nietzsches Denken vom Selbsterscheinen des "Scheins" am besten zum Vorschein. In der kleinen 'metaphysischen' Abhandlung von 1958 bestätigt Becker erst recht seine Thematisierung des "hyperontologischen" Schein-Begriffs, das heißt, "daß der ästhetische Gegenstand ganz und gar in seiner phänomenalen Oberfläche ist; das Ästhetische ist das Phänomen als solches, Erscheinung als Erscheinung; seine Seinsart ist das Erscheinen selbst. Damit ist es aber in gewisser Hinsicht 'Schein'; der Griff hinter die schöne Erscheinung greift ins Leere. Ebenso ist es aber auch darin gerade von wahrhaftiger Wirklichkeit, daß der Schein in dem Phänomen der Zerbrechlichkeit als solcher erscheint"[33][33].
Heideggers Dyade 'Sein und Zeit' war eine radikale Destruktion der neukantianischen Dyaden: von Rickerts Dyade 'Sein und Wert' bzw. 'Faktizität und Geltung' (diese Dyade auch als Wirkung der Logischen Untersuchungen Husserls über Rickert verstanden[34][34]), und von Cassirers 'Sein und Sollen' der symbolischen Formen (so Heidegger in einer Notiz von 1931)[35][35]. Becker seinerseits pythagorisierte zu 'Zahl und Zeit' die Heideggersche Dyade[36][36]. In beiden Fälle, obwohl Sein und Zahl zur Zeit zurückgeführt sind, fungiert aber die Zeit nicht für die jeweilige Zeitigung ihrer selbst sondern für das Sein, bzw. für die Zahl[37][37]. In Nietzsche zeitigt die Zeitigung die Zeitigung selbst, sie iteriert das Selbsterscheinen des Scheins. Also die Spannungsweite von 'Sein und Zeit' geht von Beckers 'Zahl und Zeit' zu Nietzsches 'Schein und Zeit' (über Rickerts Dyade: 'Sein und Wert', in der wie schon angedeutet die Zahlproblematik, d. h. die Problematik der Alogizität der Zahl, miteingeschlossen war, wie in Rickerts Aufsatz von 1911/12 und 1924 über die Logik des Zahlbegriffs)[38][38].
Die Dyadik dieser Dyaden ist im 'Schein', bzw. im Selbsterscheinen des Scheins verwurzelt. Mit ähnlichen Gesinnung hat man auch von 'Komplementarität' gesprochen.
In seinen letzteren Schriften über P. Celan hat O. Pöggeler u. a. geschrieben: "Oskar Becker radikalisierte philosophisch diesen Ansatz (so in seinem Buch Größe und Grenze der Mathematik, Freiburg/München 1959). Nach dieser Auffassung gilt die Komplementarität überhaupt für unseren Wirklichkeitszugang: Etwas kann uns als eine Natur begegnen, die in ihrem bleibenden Wesen ruht und durch mathematische Gebilde erklärt oder 'erdeutet' wird; etwas läßt sich aber auch 'verstehen' als das, was in die geschichtliche Welt und zu unserem Geschichtlich-Sein gehört. Der frühe Schelling hat nach Becker gezeigt, daß im ästhetischen Akt sich Natur und Freiheit oder Geschichte durchdringen (im Genie des Künstlers spricht die Natur und muß sich mit seinem Können und seiner Freiheit einigen). Diese Auffassung verband Becker 1958 mit Nervals Gedicht vom entwurzelten Ritter, der zweimal den Acheron durchquert"[39][39]. [...] "Nervals 'Aquitanenfürst vom Turm' durchquert zweimal den Acheron; auf der Leier des Orpheus spielt er den Seufzer der Heiligen und den Schrei der Feen. Nach Becker versteht der Mensch sich (wie Heidegger zeigt) geschichtlich; aber die 'Wesen' der Natur (personlos wie Feen und Wassermänner) kehren immer wieder und gleichen in ihrer Struktur dem absoluten Geist, etwa den geschichtsfernen Symmetrien eines mathematischen Zahlengefüges. Der Künstler vermittelt alle diese Bereiche"[40][40].
Aber das, was jede dyadische Komplementarität ermöglicht, ist das, was auch den Seufzer der Heiligen und den Schrei der Feen und Wassermänner, d. h. die doppelte Durchquerung des Acherons ermöglicht: das ek-statische Selbsterscheinen des Scheins; denn sang el Desdichado[41][41] Nervals der Schimäre, "Dans la nuit du tombeau, toi qui m'as consolé", auch: "Rends-moi le Pausilippe et la mer d'Italie, / La fleur qui plaisait tant à mon cour désolé, / Et la treille où le Pampre à la Rose s'allie". ("In der Nacht des Grabes, du, die du mich getröstet hast, / Gib mir das Posilypp [die pausôlé [tôn] lypôn] und Italiens Meer zurück, / Die Blume, die meinem verwüsteten Herzen soviel ansprach, / Und den Laube, wo die Weintraub zur Rose sich gesellt)[42][42]. Nämlich der Un-ort, wie die Blume, der Laube, die Rose, wo plötzlich und immer wieder eins zu zwei wird. In diesem unheimlichen Gedicht[43][43] Nervals, des französischen Vorläufers Nietzsches, ist das Leben der siegreich doppelte bzw. gleichzeitige Zugang zu den hyperontologischen, bzw. urzeitigenden 'Mütter' (des Lebens), in diesem Sinne ist jener Zugang gleich wie einer Höllenfahrt: einerseits die Einfahrt in den Ursprung (in den 'Schein') der Wiederholung, andererseits wieder die Einfahrt in den Ursprung (in den 'Schein') der Einmaligkeit. Diese Höllenfahrt ist eine doppelte, zweimalige ("deux fois"), aber eine solche gleichzeitig. Es geht denn eigentlich immer wieder darum, um den Zugang zum 'Schein' als solchen, d. h. zur Quelle der Wiederholung des Einmaligen und zugleich zur Quelle der Wiederholbarkeit (aber also auch Irrepetibilität) jener Wiederholung (ohne dieser gleichzeitig doppelte siegreiche Zugang - zur Einmaligkeit der Widerholung und simultan zur Wiederholung des Einmaligkeit - kann das Leben nicht sich selbst, d. h. ek-statisch, sein, bzw. leben/siegen, 'scheinen'). Mit der mathematisch-transfiniten Formel: Null - Zahl - Reihung (0 - n - ~).